Auf einem Fachsymposium am 2. Februar 2023 sprachen Bundes-, Landes- und Kreisverbände der Johanniter Unfallhilfe und Mediziner Klartext zum Thema Notfallrettung. Ihre Forderung: Reform der Notfallrettung und ein Lotsen-System
Noch ist es nicht die Regel, was Carsten Herde, Mitglied des Vorstandes der Johanniter-Unfall-Hilfe im Landesverband Sachsen, schildert. Aber es ist inzwischen durchaus Alltag: „Unseren Rettungssanitätern begegnen immer wieder Leute, die sich den Weg zum Arzt oder die Wartezeit dort sparen möchten und mit gepackter Tasche auf ihr ‚Spezialtaxi mit Blaulicht‘ warten. Im schlechtesten Fall ringt ein Patient ohne Hilfe mit dem Tode, während ein hochausgebildeter Notfallsanitäter woanders ein Blasenpflaster klebt.“
„Das gesamte System der Notfallrettung muss auf den Prüfstand“
Steigende Einsatzzahlen auch bei Bagatellen, überfüllte Notaufnahmen, Aggressionen und Gewalt gegen die Retter: Das ist der Ist-Zustand in der Notfallrettung. Und zwar nicht nur für die bundesweit 6.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Johanniter auf ihren Rettungswagen, sondern für alle im Rettungsdienst tätigen Menschen. Jüngste Beispiele aus der Silvesternacht gibt es genügend … „Durch die bislang eingeübte umfangreiche Versorgung hat sich bei einigen Mitmenschen ein verhängnisvolles Anspruchsdenken entwickelt“, ergänzt Herde.
Kevin Grigorian, Geschäftsbereichsleiter Rettung und Medizinische Dienste im Bundesverband der Johanniter-Unfall-Hilfe, bringt es auf den Punkt: „Findet ein Patient in seiner subjektiven Notlage keine Hilfe beim Hausarzt oder unter der Hotline 116117, bleibt ihm praktisch nichts anderes übrig, als den Notruf zu wählen. Die ‚112‘ stellt sich für diese Menschen oftmals als einzig verlässliche Lösung dar. Das hohe Vertrauen in den Rettungsdienst ehrt uns. Doch nicht für jeden Patienten ist der Rettungsdienst der richtige Ansprechpartner. Die Ressourcen werden dadurch knapp. Damit wir keine britischen Verhältnisse bekommen, brauchen die Menschen überzeugende Alternativen zur 112. Dazu müssen wir das jetzige System der präklinischen Versorgung reformieren.“
Bis zu 25 Prozent der Einsätze sind keine dringenden Notfälle
Ein erheblicher Teil der jährlichen knapp 800.000 Notfall-Einsätze allein bei den Johannitern wäre eigentlich vermeidbar. Darin waren sich die Fachleute am 2. Februar beim Symposium „Der Patient im Mittelpunkt“ einig. Umfragen in den 25 sächsischen Rettungswachen und Außenstellen der Johanniter ergaben, dass bei 20 bis 25 Prozent der Rettungseinsätze niemand ins Krankenhaus gebracht wird. Andererseits gibt es immer wieder Fälle, bei denen ein Patient mit kleinesten Beschwerden zur Abklärung in der Klinik vorgestellt wird.
Doch wie könnte eine Alternative zum Notruf 112 aussehen? Wie soll sie funktionieren? Der Vorschlag der Johanniter: Eine zentrale Gesundheitsleitstelle als Eingangstor zur ambulanten und stationären Betreuung der Patienten.
Zentrale Gesundheitsleitstelle und ein Gesundheits-Lotsen-System
Und so könnte es laufen: Alle Anrufe für den Rettungsdienst über die Notfallnummer 112 sowie für den Kassenärztlichen Bereitschaftsdienst über 116117 laufen bei einer zentralen Koordinationsstelle zusammen. Dort beurteilen speziell geschulte medizinische Fachkräfte, welche Versorgung angemessen und individuell richtig ist. Anhand einer standardisierten Bewertungsmatrix ermitteln die Fachleute die Schwere der Erkrankung beziehungsweise Verletzung und filtern die notfallmedizinischen oder lebensbedrohlichen Anfragen. Dann disponieren die Mitarbeiter der Gesundheitsleitstelle die Hilfs- und Rettungsmittel. Über den gesamten Einsatz können im Zweifelsfall – per Datenleitung ärztliche Fachkollegen hinzugezogen werden. Patienten werden künftig nur noch in die Notaufnahmen oder Bereitschaftspraxen transportiert, wenn sie nicht zu Hause behandelt beziehungsweise versorgt werden können.
Zugleich schlagen die Johanniter ein „Gesundheits-Lotsen-System“ vor. Liegt kein akuter Notfall vor, soll der betroffene Patient anhand seines Krankheitsbildes an den Kassenärztlichen Bereitschaftsdienst, seinen Haus- oder einen Facharzt vermittelt werden. Denkbar ist auch teleärztliche Konsultation. Kann der Patient zu Hause bleiben, könnte der Tele-Arzt Rezepte ausstellen und diese an die zuständige Bereitschaftsapotheke versenden.
Die Leitstellen wiederum sollen zudem in der Lage sein, Termine bei geeigneten Gesundheitsdienstleistern zu buchen oder Patienten an Fahrdienste zu verweisen. Ebenso an Behörden, Beratungsstellen, Organisationen und Initiativen, die sich um Menschen in Akutsituationen kümmern wie zum Beispiel Kältehilfe, Frauenhäuser, soziale Dienste, Seelsorge, Psychologische Beratungsstellen oder das Jugendamt.
Ziel der Reform müsse es sein, dass Rettungsdienste sowie ambulante und stationäre Ressourcen effizienter genutzt werden, die Versorgungsqualität dabei sogar steigt und die Notfallrettung wirklich denen zur Verfügung steht, die sie dringend brauchen. Oder wie es Notfallarzt Dr. Patrick Swoboda sinngemäß formulierte: Man sollte die Kompetenzen, über die alle ausgebildeten Rettungssanitäter verfügen, einfach mehr nutzen. Denn sie könnten vieles leisten, was bisher – weil es gesetzlich so vorgeschrieben ist – nur ein Notarzt tun darf.
Das Positionspapier mit den Reformideen liegt dem Sächsischen Gesundheitsministerium vor. Denn es ist Sache der Politik, Änderungen zu bewirken.
Hinterlasse jetzt einen Kommentar