Görlitz ist wie eine aufgeschlagene Baustilfibel

Blick von der Fußgängerbrücke über die Neiße, die seit 2004 beide Teile der Europastadt Görlitz/Zgorzelec verbindet, auf die stadtbildprägende Petrikirche Foto: Una Giesecke

Winklige Gassen, großzügige Plätze, detailreich geschmückte Fassaden aus mehreren Epochen – Touristen sind regelmäßig begeistert von Görlitz. Wie in einer aufgeschlagenen Baustilfibel steht ein architektonisches Schmuckstück neben dem anderen. Zu Fuß hat man es mit Stadtführer Uwe Gogolin in anderthalb Stunden durchstreift. Der Stadtführer erklärt, relativiert und zeigt Hintergründe, Wissenswertes und Nebenschauplätze, die man als Fremder nicht kennen kann.

So biegt er nach der Begrüßung am Treffpunkt sogleich in die Verrätergasse ein. Benannt ist die nicht etwa nach jenem Spion, der einst seine Mitbürger – Tuchhändler, die am Preisdiktat der Obrigkeit rüttelten – ans Messer geliefert hat, sondern nach den gewinnorientierten Aufmüpfigen selbst. An der Gedenktafel klicken die Kameras.

Fotogen sind auch die restaurierten prächtigen Straßenfronten, die vor Selbstbewusstsein ihrer Bauherren nur so strotzen. „Armut ist der beste Konservator“, betont der Stadtführer einen Vorteil vergangener Zeiten der Mangelwirtschaft. Hinter den Fassaden leerte sich mit der Zeit so manches Altstadthaus, dessen dunkle, enge Treppenhäuser und steile Stiegen der Konkurrenz bequemeren Wohnkomforts andernorts erlagen. „Beim Thema Treppenlift bekommen Denkmalschützer hier einen Herzkasper“, drückt Uwe Gogolin den Interessenkonflikt etwas drastisch aus.

Spürbar ist der Bevölkerungsrückgang allerdings. „Eintausend Wohnungen stehen leer“, sagt der Gästeführer und erzählt einladend, was das Rathaus dagegen unternimmt: „Sie können gern drei Monate lang kostenlos probewohnen.“ Das mag betuchte Dauerurlauber oder Rentner anlocken – schon in der Vergangenheit verbrachten preußische Offiziere in Görlitz einen preiswerteren Lebensabend als in der eine Tagesreise entfernten Reichshauptstadt Berlin.

Die im heutigen Straßenbild zu beobachtende Überalterung illustriert das größere Problem. „Junge Leute ziehen der Arbeit hinterher“, erklärt Uwe Gogolin, Touristen fotografieren die Fabrikruinen, vor denen Grauköpfe Boule spielen.

Morbider Charme

Der morbide Charme der Kulissen lockt Filmemacher nach „Görliwood“. Vom ARD-Krimi bis zum Leinwand-Kassenfüller haben sie inzwischen an die 80 Streifen gedreht, bemerkt der Gästeführer und zeigt auf das wohl schönste Jugendstil-Kaufhaus Deutschlands, wo „Grand Hotel Budapest“ gefilmt wurde. Etliche Millionen habe Investor Winfried Stöcker 2013 dafür hingelegt.

Das Geheimnis um den anonymen Gönner hingegen, der jährlich eine „Altstadt-Million“ spendete, kann auch Uwe Gogolin nicht lüften. Von 1995 bis 2015 flossen auf diese Weise knapp elf Millionen Euro in die Sanierung wertvoller Denkmäler. Dank des Geldsegens jenes Unbekannten und staatlicher Fördermittel können Görlitzer Gästeführer heute wieder die alte Schönheit zeigen: Kirchen und Fassadenschmuck von der Gotik über Barock und Renaissance bis zum Reformstil; den Flüsterbogen, die Kaisertrutz oder das Christus-Grab; reiche Museen, jahrhundertealte Durchhäuser und Sitzportale. „Als es noch kein Internet gab“, erklärt Uwe Gogolin, „dienten sie der Kommunikation – rund 2 000 Wagen pro Jahr fuhren dereinst auf dem Handelsweg Via Regia durch die Stadt am 15. Breitengrad.“

Görlitz Touristinformation, T. 03581 47570, www.goerlitz.de

Extra-Tipp: 18.6. bis 31.10., Kaisertrutz: Sonderschau „Das Wunder der Görlitzer Altstadtmillion“

http://www.museum-goerlitz.de/das-wunder-der-goerlitzer-altstadtmillion/

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