„Wir drehen am Rad“ bietet eine unfassbar klugen Sicht aufs Heute
Revue-Theater im Kabarettkeller der Herkuleskeule? Eine Idee, die natürlich nur ironisch gemeint sein kann. Und wie! Es ist – so verkünden es die vier Akteure und die beiden Musiker Jens Wagner und Volker Fiebig mit diebischer Spielfreude – eine Revue zum 60. Jubiläum der Herkuleskeule, das im vergangenen Jahr hätte gefeiert werden sollen, wäre nicht Corona dazwischengekommen.
Aber mit Rückblicken hält sich Keulenchef und Autor des Stücks Philipp Schaller in „Wir drehen am Rad“ nicht auf, der erstmals im großen Ensemble mit auf der Bühne steht. So lautet der Untertitel auch „Geburtstagsshow mit dem Schnee von heute“. Das Rad, an dem gedreht wird, gibt es übrigens wirklich: Auf der Bühne dreht sich ein Glücksrad mit skurrilen Videogrußbotschaften vermeintlicher Keulen-Besucher.
Geworden ist es ein furioser, sehr musikalischer Abend mit bösem, hoch politischem Kabarett, das nicht banal und Applaus heischend mit dem Säbel rasselt, sondern pointiert ein feines satirisches Florett schwingt. Da sorgt der weit verbreitete Genderwahn schonmal dafür, dass Zuschauer zu Zuschauenden werden, um endlich alle einzuschließen, aber Blinde trotzdem verbal ausgeschlossen bleiben, wie Philipp Schaller anmerkt. Und doch singt Birgit Schaller wenig später davon, dass Frauen auch im heutigen Deutschland noch mit sexistischen Belästigungen und geringerer Bezahlung zu kämpfen haben. Die Keule zeigt auch in diesem Stück, dass es keine einfache Sicht mehr auf die Welt gibt und dass es immer zwei Seiten gibt. Mindestens. Und auch das neue Stück nimmt den Besuchern eines nicht ab: das selbstständige Denken!
Schnell macht Detlef Nier als arbeitsloser Mittfünfziger, der sich um seine kranke Mutter kümmern muss, klar, dass es wohl auch in einem der reichsten Länder der Erde wichtigere Probleme zu lösen gilt, als geschlechtergerechte Sprache: Armut zum Beispiel. Mit einer klugen Analyse, bei der sich das Lachen tatsächlich mitunter nicht aus dem Hals heraustraut …
Großartig auch, wie Hannes Sell und Philipp Schaller die Pandemie und das Verschlafen Deutschlands als Fußballspiel kommentieren, bei dem es schon zur Halbzeit 1:4 für den FC Corona steht. Eine geniale Idee! Wie Regisseur Mario Grünewald überhaupt eine Menge solcher Ideen umgesetzt hat!
Natürlich kommt auch der Krieg in der Ukraine zur Sprache. Aber in einer Zeit, in der alle schnell die Antwort zu Gut und Böse kennen, lässt Philipp Schaller seine Protagonisten lieber Fragen stellen. Die nach der Moral vor allem. Der grüne Wirtschaftsminister Habeck will Verzicht auf moralisch-unreines Erdgas aus Russland und setzt stattdessen ausgerechnet auf Gas aus Katar …
Und es ist das alte Thema von Ursache und Anlass eines Krieges. Es ist das zynische Thema, warum uns syrische Kriegsflüchtlinge nicht anrühren, ukrainische schon. Dass Waffen-Exporte die schlechteste aller Antworten in einem Krieg sind, daran lässt Schaller keinen Zweifel und gibt stattdessen die einzige Antwort, die es geben darf: Im – auch emotionalen – Höhepunkt dieses fantastischen Abends erklingt das Lied von der kleinen weißen Friedenstaube. „… Dass nie wieder Krieg wir wollen, Frieden wollen wir“!
Zu recht gab es stehende Ovationen und Bravo-Rufe für diesen mutigen und klugen Kabarettabend!
Autor: Jens Fritzsche
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