Wien mit Dresdner Augen

Blick vom Stephansdom über Wien Foto: Una Giesecke

Stephansdom und Hundertwasser, Sisi und Franz Joseph, Prater und Schloss Schönbrunn – die touristischen Highlights der Hauptstadt Österreichs kann in Reiseführern und Internet jeder selbst nachlesen. Was dort nicht steht: Wien mit Dresdner Augen gesehen.

von Una Giesecke

Wer quirliges Szeneleben á la Neustadt liebt, nur etwas hauptstädtischer, den schickt Wien Tourismus, eine Art Dresden Information, nur etwas hauptstädtischer, zum Spittelberg. Im einstigen Rotlichtbezirk residiert eines der jüngsten angesagten Lokale, das „Kussmaul“. Einsehbare Küche, funktional edle Ausstattung, bio-regional-hausgemachte Gourmetkost, mit Leidenschaft und Transparenz, das gehört sich heute so. Vergleichbar sind Interieur und Angebot mit Elbsalon oder Mahl 2 in der Äußeren Neustadt, nur die Preise sind etwas hauptstädtischer. Um die Ecke hat Modedesignerin Lena Hoschek ihre Adresse. Sie entwirft Dirndl im Fünfziger-Jahre-Look und kann sich offenbar in ihrer Nische halten, obwohl auf den Straßen kaum Laufkundschaft zu sehen ist. Seine bewegten Zeiten hatte das Viertel in den Sechzigern, als es planiert werden sollte, weil es heruntergekommen war. „Die Bewohner protestierten, also wurde saniert, heute ist es das Downtown“, fasst Gästeführerin Alexandra Brauner den Gang der Dinge in befriedeten Sanierungsgebieten zusammen. Ob die Dresdner Neustadt in 20 Jahren auch so geleckt und ruhig ist?
Auf dem Rückweg ins Zentrum passiert man das Glacis. Aha, den Straßennamen kennt der Dresdner. Demnach besaß auch Wien früher so einen unbebauten Wall ohne toten Winkel vor der Festung, nur war der abschüssige Grünstreifen ein bisschen hauptstädtischer: bis zu 450 Meter breit. Hier lockt das Glacis Beisl – wie der Name schon sagt, gibt es was zu beißen. Typisch wienerische Kost ist zum Beispiel Gulasch. Der gelernte Balaton-Urlauber stutzt kurz, bis ihm wieder einfällt, dass Ungarn ein historisches Weilchen lang zu Habsburg gehörte. Hatte der Postkartenverkäufer im ehemaligen Türmerstübchen des Stephansdoms nicht auch ein breites „Ässbästäck“ in sein Handy gerufen, während man die Aussicht nach den vielen Stufen genoss?
Im Museumsquartier angekommen, muss ein Neustädter sich wie zu Hause fühlen, hier ist definitiv mehr los. Zwischen Mumok und Leopoldmuseum stehen wetterfeste Mehrzweckmöbel – das wäre die Idee für den nun zubetonierten Scheune-Vorplatz gewesen. Auf denen lungert von früh bis spät eine bunte Menge an Studenten, Besuchern und Einheimischen, man schwatzt, isst und trinkt, man fotografiert, liest und guckt. Wenige Schritte weiter lauschen Zuhörer zu Füßen des Maria-Theresia-Denkmals jungen Straßenmusikern, die da gerade ziemlich coolen Jazz abliefern. Schon Mozart, der auf dem Sockel als Sechsjähriger verewigt ist, weil er in dem Alter sein erstes Konzert in Schönbrunn gegeben hatte, wusste es: Wer Karriere als musikalischer Freelancer machen will, der geht nach Wien.

Zuckerbäcker und soziale Unternehmer

Noch dichter wird der Strom der Flaneure am Graben in der Innenstadt, was sozusagen die Prager Straße von Wien ist, nur bedeutend hauptstädtischer. Mondäne und hippe Läden wechseln ab mit kaiserlich-königlichen Hof- und Kammerlieferanten, die seit anno dunnemals ihr Image polieren und zelebrieren. Beim Zuckerbäcker Demel besteht es aus kurzangebundenem weiblichen Personal in einer Art Livree. Die angeblich beste heiße Schokolade der Stadt und der Melange, wie der Cappuccino in Österreich heißt, schmecken tadellos und sind nicht viel teurer als überall in der Metropole, um die 4 Euro berappt man pro Tasse. Hoffentlich verdient man auch hauptstädtisch.
Aber ja, versichert Reinhard Kroiss. Der Küchenleiter der Kantine „Magdas“ findet 5 Euro nicht zu viel verlangt für ihre Schulspeisungsportionen. Sein Gehalt verrät er nicht, ansonsten plaudert er gern mit Gästen, setzt sich mit an den Tisch im Lokal, das mit ausgedienten Türen dekoriert in einer früheren Halle einer umgenutzten Brotfabrik arbeitet. An der Adresse firmiert neben Ateliers und Galerien auch eine Bildungseinrichtung der Caritas, die das „Magdas“ samt gleichnamigem Hotel betreibt und damit Asylanten einen Einstieg in die Berufswelt ermöglicht, „auch um Vorurteile abzubauen, etwa die Flüchtlinge würden den Einheimischen die Arbeit im Niedriglohnsektor wegnehmen“, betont Reinhard Kroiss. Er habe einen syrischen Koch, der zu Hause für 1 200 Leute zuständig war. „Der muss hier nicht als Küchenhilfe anfangen. Den größten Aufschrei hört man doch immer dort, wo die Leute kaum Kontakt zu Ausländern haben.“ Nachdem jede Menge große Medien darüber berichtet hatten, „kommen 60 Prozent der Gäste wegen des funktionierenden Social Business“, was so viel heißt wie soziale Probleme mit unternehmerischen Methoden zu lösen.

Soziales Engagement

Soziales Engagement hat Tradition in Wien. Bedürftige wohnen in einem der zahlreichen Gemeindebauten, die die durchgehend SPÖ-regierte Stadt seit 1919 allerorten errichten ließ. In einem dieser Blöcke mit Innenhof nennt eine Hausmeisterin die Miethöhen: 6 bis 9 Euro kalt, das hänge von der Ausstattung ab, sprich: vom Kohleschleppen in der bestandsgeschützten Hütte bis zur gasbeheizten modernisierten Wohnung. Immerhin sind die Fenster größer als die unterm Dach der Hofburg. Richtig gelesen: In der noblen Hofburg wohnt gemeines Volk, weiß Alexandra Brauner, die sich staatlich geprüfte Fremdenführerin nennen darf, also muss es stimmen. Und es leuchtet ja ein, dass zu Kaiserzeiten das Personal rund um die Uhr verfügbar zu sein hatte. „In den nicht besonders komfortablen Dienstwohnungen lebten bis vor 20 Jahren noch Beamte. Inzwischen vermietet die Burghauptmannschaft die knapp 50 Unterkünfte für 9 bis 16 Euro pro Quadratmeter.“

Bungee Jumping und Hundeparks

Wohnen muss der Wien-Gast zum Glück nicht, nur übernachten. Neben Geldbeutel und Geschmack sollte er in der Auswahl der Unterkunft bedenken, wie er sich fortbewegen will. Denn auch die Straßenbreiten und -längen zwischen all den Sehenswürdigkeiten sind verdammt hauptstädtisch. Eine gute Wahl ist daher die Wien-Karte ab 21,90 Euro. Neben der 48- oder 72-Stunden-Netzkarte für die öffentlichen Verkehrsmittel erschließt sie über 200 Rabatte in Museen und Geschäften. Eine bequeme Alternative dazu sind die praktisch fast nichts kostenden City Bikes, für die man allerdings eine Kreditkarte benötigt, oder Leihfahrräder, die nur wenige Hotels wie etwa das Meininger anbieten.

Aufgesattelt, nun muss man nur noch geschickt die frequentierteren Straßen und Fußgängerzonen umfahren, um den Ring abzuradeln oder zu Prater, Donauinsel und Altem Donau-Ufer vorzudringen. Gegen diese grünen Freizeitparks samt Wassersport ist der Große Garten trotz Ruderteich ein Klacks. Von der Größe her könnte die Dresdner Heide vielleicht mithalten, aber Wien bietet neben Wanderwegen auch ausgedehnte Radfahr- und Skaterstrecken, einen öffentlich zugänglichen Fernsehturm – den Donauturm mit Restaurant ganz oben und Bungeejumping – und beschäftigt Waste Watcher, also Leute, die aufpassen, dass nirgends Müll herumliegt. In extra ausgewiesenen Hundeparks können sich Vierbeiner artgerecht die Füße vertreten, während Herrchen und Frauchen sich artgerecht zufällig über den Weg laufen. Kommunikativer sind nur Kinderspielplätze. Auf denen sieht man neben Eltern allerhand Gemeindejacken: Die Stadt lässt putzen und Geräte aufbauen. Nicht zu vergessen die öffentlichen Toiletten: blitzeblank, kostenlos und auf dem neuesten technischen und ethischen Stand von der Blindenschrift bis zum Notfallknopf für Gestürzte. Schöner sind nur noch die musealen Jugendstil-Klos am Graben, Fotografieren gratis.

Selfies vor dem Kuss von Gustav Klimt

Apropos: Für Selfies hat das Obere Belvedere einen extra Erkerraum reserviert. Statt all die klimtschen Originale zu bewundern, stehen junge Gänschen an einer Kopie seines Kusses Schlange, um sich davor abzulichten. Mit etwas Glück klappt es vielleicht sogar mit dem echten Bundespräsidenten, wenn er zufällig vor die Tür seines Kanzleramts tritt. „Zu Fuß und ohne Bodyguards, so unspektakulär hat Heinz Fischer mal mit einer Gruppe deutscher Touristen geplaudert“, berichtet Alexandra Brauner von ihrem Aha-Erlebnis im Jahr der Wulff-Affäre. Mal sehen, wie leutselig der nächste Bundespräsident ist, in der bevorstehenden Stichwahl wird er direkt gewählt. Österreich ist übrigens das einzige Land in Europa, wo bereits 16-Jährige an die Urne treten dürfen.
Was Staatschefs betrifft, gelten geborene Dresdner als nostalgisch. Angeblich soll einst am Goldenen Reiter ein Schild gehangen haben: „Lieber August, steig hernieder und regier uns Sachsen wieder!“ Diesen guten Ruf hat sich das gekrönte Marketingtalent bereits zu Lebzeiten erarbeitet. Denn was hätte ihm all seine absolutistische Prachtentfaltung genützt, wenn keiner davon erfahren hätte. Also ließ der Starke kostspielige ledergebundene Riesenfolianten herstellen, die seine Gemäldesammlung dokumentierten, sogenannte Galeriewerke. Zu sehen sind die Vorläufer heutiger Kunstkataloge derzeit in der Sonderschau „Fürstenglanz“ im Wiener Winterpalais, wobei Dresden in der Liga prachtvoller Barockhöfe von Paris bis St. Petersburg mitspielt. Stolzgeschwellt kehrt der Dresdner heim.
www.wien.info

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