Jahrelang hat er die Fanszene angeführt, Stadionverbote kassiert, Pyro gezündet. Jetzt hat Stefan Lehmann zwei Kinder und erzählt von seinem Traum.
Warum schreibt der ein Buch, werden sich manche fragen. Das weiß er und stellt gleich voran: „Die Frage ist nicht unberechtigt“, meint der 34-Jährige, der im Umfeld von Dynamo Dresden besser bekannt ist als Lehmi. Stadionbesucher haben ihn als Einklatscher vorm Anpfiff erlebt, als denjenigen, der Gesänge anstimmt, der für die oft unvergleichliche Atmosphäre im Rudolf-Harbig-Stadion sorgt.
Geachtet, bewundert, gefürchtet
Für die aktive Fanszene ist er der Capo, ihr Mann auf dem Turm im K-Block, Identitätsträger, Vorsänger, Leitfigur. Für alle, die es nicht gut mit Dynamo meinen, verkörpert der gebürtige Dresdner alles Schlechte, Negative, Kritikwürdige. In seinem Buch „Capo – Meine Stimme für Dynamo Dresden“, das es nach 10 000 verkauften Exemplaren innerhalb von zwei Monaten jetzt in zweiter Auflage gibt, wird er von einem seiner besten Kumpels als einer mit „zu viel Herz und zu wenig Hirn“ bezeichnet. Auch eine gute Charakterisierung. Lehmann hat Dynamos Fans, das klingt pathetisch wie übertrieben, in den vergangenen fast 20 Jahren zu dem gemacht, was sie heute sind. Deutschlandweit geachtet, bewundert, gefürchtet, immer wieder auffällig mit unglaublichen Aktionen, nur regelmäßig eben auch mit dem Gesetz in Konflikt.
Er selbst hat einige Stadionverbote abgesessen, sich geprügelt mit den Fans des Gegners und wahlweise auch mit der Polizei. Lehmann hat am 3. Dezember 2000 mit ein paar Mitstreitern UD gegründet, die Ultras Dynamo, hat Geld gesammelt für das Überleben des Vereins, da war er noch nicht volljährig. Er hat mit Dynamos Geschäftsführern verhandelt und schon Pyrotechnik gezündet, als das weder Innenministerium noch Verband interessierte. Und er tut es trotz inzwischen streng verfolgten Verbots immer noch gerne – weil es für ihn und alle Ultras ein unverzichtbares Mittel für Stimmung im Stadion ist.
Pyrotechnik ja, Böller nein
Böller dagegen würde er nicht werfen. Oder besser: nicht mehr. „Will dann ein Ordner so ein Ding in dem Glauben aufheben, es handele sich um ein Leuchtelement, kann es ihm schnell die Hand zerfetzen. Auf jene Teile sollte im Stadion und im Umfeld des Spiels daher besser verzichtet werden. Diese Meinung vertrete ich seit Jahren“, betont Lehmann – und gesteht rückblickend: „Knaller aus unserem Block konnte ich nicht verhindern. Ich war nicht der Kindergartenchef, der auf alle aufpasst.“ Am 4. Dezember 1999 hat Lehmann zum ersten Mal ganz vorne im K-Block gestanden beziehungsweise auf dem Zaun gesessen.
Mit 14 zum ersten Mal auf dem Zaun
„Eine peinliche Angelegenheit, denn kaum jemand machte mit. Hohn und Spott fing ich mir ein. Als 14-jähriger Rotzer war das schwer. Viele nahmen mich nicht ernst“, erzählt er über die schweren, die wilden Anfänge. Und der gelernte wie leidenschaftliche Koch verrät auch, wie zwei Kilogramm Rauchpulver unbemerkt ins Stadion gelangen können: verpackt in 200-Gramm-Päckchen und in den Schuhen versteckt.
Er und die Ultras, die als verschworener Haufen durchgehen, aber keine homogene Gruppe sind, haben ja bereits bei einigen Buchprojekten mitgearbeitet. Der Presse indes steht man kritisch bis ablehnend gegenüber. Vielleicht auch, weil die eine Sache, wie Lehmann meint, bislang fehlte: „Eine Reflexion fand nicht statt und die Folgen der Geschehnisse wurden nicht aufgearbeitet.“
Nun darf man sich das Buch nicht als klassische Aufarbeitung vorstellen, mit Reue, Erklärungen und Entschuldigungen. Er erzählt vielmehr wertungsfrei Anekdoten, schildert Geschehnisse und verdeutlicht Entwicklungen aus den vergangenen 18 Jahren. Dass er das Buch ausgerechnet mit Jens „Jente“ Knibbiche vom 1. FC Magdeburg geschrieben hat, sorgt für Diskussionsstoff, allerdings auch für einen ungewöhnlichen, spannenden Blick über den Tellerrand. Bei seiner Kritik im Kapitel Zukunftsvisionen an der Kommerzialisierung des Fußballs und der prinzipiellen Digitalisierung stimmen ihm vermutlich auch Menschen zu, die Dynamo nicht leiden und mit dem Begriff Ultra nichts anfangen können. Schließlich verblüfft Lehmann mit einem Traum, der mehr Vision ist. Nicht Dynamos 100. Europapokalspiel beschäftigt ihn, sondern die Perspektive auf Jahrzehnte hinaus, er entwirft dabei einen Dynamo-Campus für den Mehrspartenverein SGD. „Unser Verein der Zukunft sollte den Hauptfokus nicht aufs Profigeschäft im Fußball legen, sondern bezahlbare Angebote für alle Teile der Gesellschaft schaffen.“
Der Entschluss, als Anführer der Ultras aufzuhören, ist wohl überlegt. „Meine Familie, insbesondere meine zwei Kinder haben die Rangliste stark verändert.“ Und er stellt außerdem fest: „In meinem jetzigen Lebensabschnitt bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich verschiedene Dinge verarbeiten muss. (…) Das Buch gibt mir wunderbar Gelegenheit dazu.“ Womit auch die Anfangsfrage beantwortet ist. (Tino Meyer)
Stefan „Lehmi“ Lehmann – Meine Stimme für Dynamo Dresden
Unter anderem ab 19 Euro auf Amazon erhältlich.
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