„Schöne Aussichten“ im Palais im Großen Garten

Antje Trautmann brilliert in der Rolle der zahlungskräftigen, trunksüchtigen Baronin, die Männer wie ihren Neffen (Claudius von Stolzmann) oder Chauffeur (Holger Bülow) gern vorturnen lässt. Foto: David Baltzer

„Zur schönen Aussicht“, heißt das Hotel, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Dem Stück von Ödön von Horváth, das danach heißt, könnte man dies auch nachsagen. Denn vermutlich steht nicht festgeschrieben, dass sich die Akteure ausziehen müssen. Dies gilt unter Theaterleuten eher als Verlegenheitsmittel, wenn der Regie nichts mehr einfällt.
Was man von Susanne Lietzow gar nicht kennt, hat sie sich doch beispielsweise mit Inszenierungen wie „Klaus im Schrank“oder „Das Gespenst von Canterville“ die Herzen der Dresdner erobert. Auch Hauptmanns Duster-Stück „Die Ratten“ meisterte sie erfolgreich.
Also hat sich die Regie vermutlich was dabei gedacht, warum speziell „die Neuen“ – vielleicht als Einstand? – in einer lauten Szene halbnackt herumhampeln müssen. Oder wegen der „schönen Aussicht“? Kommentar zweier Seniorinnen beim Hinausgehen: „In meinem Alter ist man abgebrüht.“ – „Das ist eben Realismus.“ – „Ich hab jedenfalls gar nicht gemerkt, wie schnell über zwei Stunden um waren.“ Eine junge Zuschauerin hingegen fand die 130 Minuten ohne Pause zu zäh. Auch Aussichten sind wohl Ansichtssache.
Der Ort indes kaum. Das Palais im Großen Garten ist ja zu den weihnachtlichen Chrismas-Carol-Aufführungen regelmäßig restlos ausverkauft. Auch jetzt dient es wieder als authentische und atmosphärische Kulisse vom Feinsten. Kluger Griff der Ausstattung: Vollgestellt mit Spiegeln, führt diese Charakterstudie dem Zuschauer die eigenen sorgsam kaschierten Dellen unterm Lack der Zivilisiertheit knallhart vor Augen.
Komödie? Das trifft es nicht, denn diese bitterböse Gesellschaftssatire dekliniert einen ganzen Kosmos an Schattenseiten und Abgründen durch: von Stagnation, Apathie, Tristesse über Gefühle von Nutzlosigkeit, Sinnleere, Haltlosigkeit bis hin zu Sucht, Habgier, Selbstbetrug, Krankheit und seelischem Bankrott, der in Kälte, Herrschsucht und Skrupellosigkeit mündet.
Skizzierte der Autor 1926 noch den trostlosen Alltag einer untergehenden Gesellschaft, so will die Regisseurin vermutlich Parallelen ziehen: zur Dekadenz in einem System, das in verschärften Konflikten unter Druck geraten ist und sich selbst infrage stellt.

3.9., 20 Uhr, 4.9., 16 Uhr, 6. bis 10.9., 20 Uhr, 11.9., 19 Uhr, 12., 15. bis 17.9., 20 Uhr sowie 18.9., 16 Uhr,
Karten-Tel. 0351 4913555, www.staatsschauspiel-dresden.de

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