An der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek SLUB wurde jetzt das Deutsche Archiv der Kulinarik gegründet. Diese Sammlung zur Entwicklung der Kochkunst sowie zu Tafel- und Esskultur ist bundesweit einzigartig.
Nein, auf Spaghetti Bolonaise hatte die englische Queen am 7.7.1959 offenbar keinen Appetit. Das mit blauer Tinte in einer Menüliste aufgeführte Gericht ist durchgestrichen und darüber steht die Anweisung „Omelette aux Tomates“. Ob die Queen diese mit Bleistift geschriebene Änderung der Speisefolge höchstpersönlich vornahm, ist annehmbar, aber leider nicht überliefert. Genauso unbekannt ist bis heute, wie jenes Menübuch aus der Zeit vom 5. Juni bis 15. Oktober 1959 den Palast überhaupt verlassen konnte. Denn üblicherweise landen diese Bücher in den Archiven des Königshauses und nicht im Deutschen Archiv der Kulinarik.
Es geht um kulinarische Ästhetik und den Geist der Kochkunst
Das Deutsche Archiv der Kulinarik dürfte das jüngste Archiv der Bundesrepublik Deutschland sein. Offiziell gegründet wurde es erst vor wenigen Tagen, genauer am 10. Oktober. „Der Bestand dafür wurde indes schon in den letzten Jahren sukzessive aufgebaut“, sagt Katrin Stump, die Generaldirektorin der SLUB.
Dank maßgeblicher Unterstützung der TU Dresden, der Christian C.D. Ludwig – Foundation, der Kulturstiftung der Länder und der Rudolf-August Oetker-Stiftung bilden bereits tausende Handschriften, Bücher und Zeitschriften sowie Menükarten, Gebrauchsgrafik und Fotografien die Grundlage der Sammlung. Dazu gehört zum Beispiel von Walter Putz die „Bibliotheca Gastronomica“ mit über 4.000 Drucken. Putz war 50 Jahre lang als Oberkellner in den besten Hotels Deutschlands tätig und sammelte seit 1952 Literatur zur Kulturgeschichte der Gastronomie.
2018 kamen mit dem Nachlass des Gastronomiekritikers Wolfram Siebeck über 1.500 Bücher sowie mehrere hunderte Speise- und Menükarten der prominentesten französischen Köche, etwa Paul Bocuse oder Alain Chapel, in die SLUB.
Auch die umfangreiche Kulinaria-Sammlung von Ernst Birsner, Maître de cuisine im Kochstudio des Burda-Verlages, muss erwähnt werden. Sie umfasst rund 50.000 Objekte, darunter 11.000 Bücher, geschätzte 40.000 historische Speise- und Menükarten von Höfen, Luxusschifffahrten und Sterne-Restaurants sowie Manuskripte, Geschäftskarten und Weinetiketten. Teil der Sammlung sind Menü- und Speisekarten deutscher und europäischer Fürsten- und Königshäuser aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhunderts, die die täglichen Mahlzeiten zum Teil fast lückenlos abbilden – darunter Menübücher Kaiser Wilhelms II. aus seinem Exil in Doorn und das eingangs erwähnte Menübuch der englischen Königin Elisabeth II. aus dem Jahr 1959.
Eine umfangreiche Rezept-Sammlung des ersten deutschen 3-Sterne Kochs Herbert Schönberner findet sich ebenso wie die Niederschriften und gesammelten Rezepte des Sternekochs Lothar Eiermann.
Die Frage ist: Wozu braucht es ein Archiv der Kulinarik? Die kurze Antwort lautet: Um wissenschaftlich zu erforschen, wie sich Ess- und Tafelkultur im Laufe der Jahrhunderte entwickelten. Die lange Antwort gibt Prof. Dr. Ursula Staudinger, Rektorin der Exzellenzuniversität TU Dresden: Um über Fachgrenzen hinweg die wissenschaftlichen Grundlagen der Kulinarik besser zu verstehen, um die gesellschaftliche Relevanz der kulinarischen Ästhetik und die historische Bedeutung von Kochkunst und Tafelkultur zu erforschen.
Das klingt logisch, denn während Musik, darstellende Kunst, Literatur oder Architektur in ihrer historischen Entwicklung schon weitgehend erforscht sind, liegt das Gebiet der Kulinarik noch wie ein offenes Buch auf dem Tisch der Wissenschaftler. Wie haben sich Geschmack und Essgewohnheiten entwickelt? Wie die Art der Lebensmittelherstellung und ihre Verarbeitung? Was hat es auf sich mit dem „Geist der Kochkunst“ auf sich, über den Carl Friedrich von Rumohr 1822 schrieb und der sich als erster Europäer mit der Thematik der Gastrosophie befasste …
Statt Kochbuch-Schwemme gern die Rezeptsammlung der Uroma
Essen ist eins der alltäglichsten Dinge des Lebens. Wie wirkte sich das auf die Porzellanherstellung und Glasbläserei aus? Auch das wird ein Thema künftiger Forschungsarbeit sein.
Was nicht Einzug halten wird ins Archiv der Kulinarik: Kochbücher der Jetztzeit, die jährlich zu hunderten den Buchmarkt überschwemmen und gern verfasst werden von Stars, Sternchen und Z-Promis, die sich für Gourmets halten. „Wir wollen in erster Linie die Kulinarik des 19. Jahrhunderts und die Küchenwunderzeit des 20. Jahrhunderts erforschen“, sagt Prof. Dr. Andreas Rutz von der TU Dresden. Gefragt sei daher eher Uromas uralte Rezeptsammlung. Aber auch spannende Fragen, wie sich zum Beispiel Ost- und West-Essgewohnheiten entwickelten, was die DDR-Regierungsriege speiste und was sie bei Staatsbesuchen kredenzte sei durchaus erforschenswert. Und vielleicht hatte ja auch Honecker ein Menübuch mit Anmerkungen …
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