Wenn vom Alten Leipziger Bahnhof die Rede ist, dann oft in Verbindung mit seiner unrühmlichen Rolle als Ort der Deportation von Juden und als Zankapfel „Globus-Ansiedlung“. Dabei wurde hier europäische Geschichte geschrieben.
Wer den Alten Leipziger Bahnhof heute als Lost Place sieht, mag nicht ganz unrecht haben. Maroder Charme liegt über dem 27 Hektar großen Areal. Hier soll der Ausgangspunkt der deutschen Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen sein? Kaum zu glauben.
Und doch: Als Endpunkt der 1839 eingeweihten ersten Ferneisenbahn Europas zwischen Leipzig und Dresden markierte der Alte Leipziger Bahnhof den Aufbruch in das Zeitalter moderner Mobilität. Exemplarisch für den Aufschwung, der mit den Gleisen kam, steht die Ansiedlung zahlreicher Firmen, die weit über Sachsens Grenzen hinaus bekannt wurden: Die Pharmazeutische Fabrik von Franz Ludwig Gehe, die Dresdner Niederlassung von Villeroy&Boch, die Mechanische Fabrik von Clemens Müller (Nähmaschine Veritas) und auch Orgelbaumeister Jehmlich ließ sich hier nieder. Karl August Lingner nutzte ein Gebäude auf dem Bahnhof, um hier seine Sammlung für die Hygieneausstellung (1911) unterzubringen – ein Jahr später wurde das Deutsche Hygiene Museum eröffnet.
Eine Denkschrift und eine Petition an den Landtag
Es waren zwölf Leipziger Kauf- und Geschäftsleute, die am 20. November 1833 eine Petition zum Bau einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden an den Sächsischen Landtag richteten. Sie waren von Dr. Friedrich Lists Arbeit „Über ein sächsisches Eisenbahn-System als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn-Systems und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden“ begeistert und teilten offenbar die Weitsicht des Ökonomen, dass „sich mit dem Bau der Eisenbahn die staatliche Einheit Deutschlands“ vollziehe.
Aus diesem Unternehmer-Dutzend ging 1835 die „Leipzig-Dresdner Eisenbahn Compagnie“ (LDE) als private Aktiengesellschaft hervor und von da an ging es Schlag auf Schlag: Im Mai des Jahres erteilte die Sächsische Regierung der LDE die Konzession zum Bau der Trasse, zur Ostermesse wurden 15.000 Aktien zu je 100 Taler innerhalb weniger Stunden gezeichnet, so dass ein Kapital von mehr als einer Million Taler bereitstand.
Schwindelerregendes Bautempo
Im Herbst begannen erste Bauarbeiten an der MuldeBrücke bei Wurzen, der offizielle erste Spatenstich folgte am 1. März 1836.
Und das heute schwindelerregende Tempo hielt an. Ende April 1837 wurde der erste Streckenabschnitt von Leipzig zum Vorort Althen eröffnet. Am 19. Juli 1838 fand vor den Toren Dresdens die Jungfernfahrt von Neudorf nach Weintraube (Radebeul) statt. Innerhalb weniger Monate wurden dabei technische Herausforderungen bewältigt, die für die damalige Zeit einmalig waren: Der Tunnel von Oberau, der Einschnitt von Machern, das Viadukt von Zöllichau, die Mulde-Brücke bei Wurzen.
Schließlich der große Moment: Die Einweihung der gesamten Strecke am 7. April 1839. An Bord nicht nur der LDE-Vorstand, sondern auch viele Ehrengäste. Für die 115 Kilometer lange Strecke brauchte es damals 3 Stunden und 40 Minuten. Das Tempo lag bei rasanten 30 Stundenkilometern, was bei nicht wenigen Medizinern zu Warnhinweisen geführt haben soll. Verständlich, schließlich benötigten Reisende mit der Expresspostkutsche zuvor mindestens zwölf Stunden reine Fahrzeit.
Übrigens: Die von Andreas Schubert in Übigau eigens für diese Strecke gebaute Dampflok „Saxonia“ durfte am Eröffnungstag nur hinterherfahren. Mehr Vertrauen gab es in die Strecke an sich: Schon 17 Monate nach Einweihung rollte die weltweit erste Ferneisenbahn ab Oktober 1840 zweigleisig.
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